Nicole

 

Nicole

 

Es war einmal ein kleines Dorf. Angeschmiegt an tiefgrüne Hügel, lag es auf der Sonnenseite des Tals. Die Leute, die dort lebten, waren Bauern oder verdienten ihr Brot in der Mühle. Sie kannten sich alle. Sie wussten wer krank war und wer verlobt, welche Kinder die wilden Blattern gehabt hatten und welche noch nicht. Wessen Scheune ein neues Dach brauchte und wessen Kuh gekalbt hatte. Wer einsam war. Wer traurig war.

Und in diesem Dorf lebte ein Mann. Der hatte einen Garten so schön, dass niemand vorbeigehen konnte, ohne stehen zu bleiben und hinein zu schauen. Da waren Glockenblumen in weiss und blau, Lavendel und Schleierkraut, nach Zimt duftende Nelken, Ringelblumen und Löwenmaul, silbrige Katzenpfötchen, Sonnenblumen so hoch wie ein Turm. Ein Geissblatt schlängelte sich durch die Äste des alten Apfelbaums. Und Rosen, Rosen überall.

Auch sie kannte der Mann bei ihrem Namen. Da waren Schneezwerg und Schwanensee, Raubritter, Duftwolke und Felicia, Elfenreigen, Flammentanz, Hermosa und Isphahan, die Königin von Dänemark, Lara und Leda, die Waldfee, Penelope, Tausendschön und Veilchenblau. Wie Freunde lebten sie in seinem Garten. Doch eine Rose, Nicole, war ihm besonders ans Herz gewachsen. Er liebte sie wie ein Vater seine Tochter liebt. Als Knospe war sie überströmt von zartem Rosa und wie sie sich öffnete, Blütenblatt um Blütenblatt, wurde sie weiss wie eine Schneeflocke im Sommer. Eine Krone aus goldenen Samenfäden strahlte aus ihrer Mitte.

Schmetterlinge umflatterten Nicole, Bienchen küssten sie. Nachbarn kamen, Freunde kamen, und sie alle baten um eine Blüte. Nur eine Blüte. Der Mann freute sich und war stolz. Ja, so stolz, denn er kannten niemanden, der eine Rose von solch seltener Schönheit besass. Jedes Jahr wurde der Busch kräftiger, jedes Jahr versprach er mehr rosa Knospen, mehr weisse Blüten.

Dann eines Tages im Juli regnete es, nur ein feiner Nieselregen, doch waren alle erstaunt, denn nicht die kleinste Wolke verdunkelte den Himmel. Die Sonne schien. Der Himmel war blau. Die Männer und Frauen waren alle auf den Feldern, das Heu für den Winter einzubringen. Die Frauen rechten es in schmale Reihen, die Männer bündelten und trugen es zusammen zu riesigen Haufen. Die grösseren Kinder halfen mit, die Kleineren rannten und lachten und hüpften durch das duftende Heu.

Plötzlich, ein lauter Schlag des Donners liess die Luft erzittern. Was eigenartig war, denn immer noch war der Himmel klar und blau. Die sanfte Sommerbrise ward zum Wind und der Wind zum Sturm. Und der Sturm blies und blies in das so sorgsam gerechte Heu, zerstobte die Haufen und blies bis die Sonne verschwunden war hinter Wolken aus Heu, und der Himmel schwarz war wie die Nacht.

Dann ein greller Blitz, wie ein glänzendes Schwert durchstach er die Wolken und suchte und suchte nach einem Baum, um seine unbändige Kraft zu entladen. Doch das Heu in der Luft verwirrte den Blitz, und in seiner Verwirrung traf er nur einen Busch. Einen Rosenbusch. Nicole. Als der Blitz sah was er in seiner Blindheit getroffen hatte, riss er sein glühendes Schwert zurück. Aber es war zu spät. Nicole's Stengel waren verkohlt, die Blütenblätter weit verstreut, wie Schneeflocken im Sommer.

Der Blitz schämte sich, er schämte sich so. Wie konnte er, der Herrscher der Lüfte sich an einer Rose vergehen, einer Blume? Und wütend war er auch. Mit sich selbst. Er donnerte zu den Regenwolken Täler entfernt "wollt ihr endlich herkommen und dieses Tal bedecken! Ich will sie nicht mehr sehen - nicht das Dorf, nicht die Felder, nicht die Rose!'

Wild rannten die Männer und Frauen über ihre leer gefegten Felder. Die Arme gegen den Himmel gestreckt, klagten und schrien sie "Oh Gott, was sollen wir unseren Kühe füttern? Wie nur, wie, sollen wir unsere Tiere durch den Winter bringen? Wie, oh Gott?"

Wolke nach Wolke zog heran. Dichter und dichter schlossen sie sich zu zusammen. Dicke Tropfen begannen zu fallen. Die Männer schulterten die Rechen. Die Frauen nahmen die leeren Körbe auf den Arm, die Kinder bei der Hand. Und sie alle machten sich auf den Weg zurück zum Dorf. Die Männer fluchten, die Frauen jammerten, die Kinder weinten.

Unten bei der Mühle, wo die Strasse den Bach überquert, trafen sie auf den Mann mit dem Garten. Den Kopf hängend, die Augen von Tränen verhüllt, wäre er fast in sie hineingelaufen. Die Männer und Frauen vom Dorf erkannten den Mann kaum, so klein und alt war er geworden. Doch hielten sie an und fragten nach dem Grund seiner Trauer. Er erzählte von dem Blitz aus klar blauem Himmel, von Nicole's schwarz verkohlten Stengeln, den Schneeflocken im Sommer. Und er weinte wie ein Vater, der seine Tochter verloren hat.

Die Wolken, in der Zwischenzeit, hatten sich zu einer dichten Decke verwoben. "Besser fest als nie!" riefen sie sich zu und hagelten weisse eisige Steinchen. Die Mütter nahmen ihre Kinder schnell auf den Arm, die Männer packten den weinenden Mann und sie alle rannten so schnell sie nur konnten, Schutz suchend zum nächsten grossen Baum.

Dort unter der alten Buche, mit Ästen so breit wie eine Kirche, setzten sie sich. In ihrer Mitte der Mann mit dem Garten. Sie legten ihren Arm um ihn, und sie alle weinten. Sie weinten um den Verlust des Futters, weinten um Nicole. Der Nachmittag ward zum Abend, und der Abend zur Nacht. Und sie weinten und weinten, und jeder erinnerte sich daran, etwas Liebes und Teures verloren zu haben. Der Morgen brach an, aber der Tag blieb dunkel. Was eigenartig war, denn nicht eine Wolke stand noch am Himmel.

Eine Zeit verging, sie war weder kurz noch lang. Der Mann wanderte durch das Dorf, die Felder, die Wälder. Tag für Tag, Woche für Woche. Mit dem Verlust von Nicole, hatte er auch seine Freude am Garten verloren, seine Freude am Leben. Ohne Ziel, ohne Hoffnung irrte er umher.

So kam er eines nachmittags, die Sonne war schon tief, zur alten Buche, unter deren weitausladenden Asten sie alle geweint hatten. Müde setzte er sich auf die kahle Erde. Den Rücken an den Stamm gelehnt, schloss er die Augen. Seine Gedanken irgendwo in der Vergangenheit, streichelten seine Hände die Wurzeln. Müde war er. Ja, so müde. Die Wurzeln waren knorrig, die Erde ausgetrocknet und hart.

Wie im Schlaf glitten seine Hände hin und her, auf und ab. Bis sein Ärmel hängenblieb an einer Dorne. Er öffnete die Augen und löste den Stoff. Doch da, er konnte es kaum glauben, der feine Trieb einer Rose! Hier im tiefen Schatten des Baums, fast ohne Licht, fast ohne Wasser! Kaum grösser als seine Hand, am Ende die Verdickung einer Knospe, so klein, so zart wie ein Korn von Hoffnung.

Eine Rose kämpfte hier um ihr Leben wo es doch kein Leben gab für eine Rose! Als der Mann das sah, vergass er den Grund seiner Trauer, und seine Seele als Gärtner erwachte wie neu.

Er eilte nach Hause, holte Spaten und Korb. Die Leute, die ihn so sahen, waren verblüfft, denn er weinte nicht mehr und ging, Kopf hoch, mit federnden Schritten. Wie jemand, der ein Ziel hat. Sie folgten ihm, und alle wollten sie sehen - die Rose unter der Buche!

Vorsichtig, ganz vorsichtig, trat er den Spaten in die harte Erde und umstach den Trieb. Denn die feinen Wurzeln, die wollte er nicht verletzen. Mit beiden Händen hob er den Klumpen heraus, sanft legte er ihn in den Korb.

Ein kleines Strahlen in den Augen, eilte er zurück zu seinem Garten. Wohin würde er die Rose pflanzen? Welches war der beste Platz? Vor dem grossen Fenster, geschützt vom Nordwind, dort wo Nicole war. Ja, das war der beste. Er grub ein Loch, füllte es mit frischer Erde. Sanft setzte er den Klumpen hinein. Die Giesskanne mit Regenwasser gefüllt, goss er die kleine Rose ein.

Heisse Tage kamen, warme Nächte. Die Blätter verdorrten nicht, der Trieb blieb frisch und grün. Die Rose fing an zu wachsen. Ihre Stengel wurden kräftiger, die Knospe dick und fest. Langsam lösten sich ihre äusseren grünen Blätter. Dann erschienen Spitzen von zartem Rosa überströmt. Und wie sie sich öffnete, Blütenblatt um Blütenblatt, wurde das Rosa dunkler und dunkler - so dunkel wie alter Wein. Nur die Samenfäden, die waren glasklar. So klar, wie Tränen am Ende er Nacht. So klar, wie Tau am Anfang des Tages.

Zur Geschichte

Nicole, die neunjährige Tochter von lieben Freunden, starb ohne jede Vorwarnung, ohne Anzeichen einer ernsten Erkrankung an Meningitis Schock im Sommerlager. Ich schrieb die Geschichte für die Eltern. Als eine Art Parabel auf das Unbegreifliche.